Zu den Gedichten geht es hier:
Die folgenden Beipiele von Interpretationen von zwei Gedichten sollen zeigen, dass Interpretieren nicht die krampfhafte, verzweifelte Suche nach dem ist, was die AutorInnen “eigentlich” in ihrem völlig unverständlichen Text sagen wollten, sondern dass Interpretation die Auseinandersetzung mit dem genauen Lesen, nahe am Text, meint. Genau sein, sich von der Sprache den Weg weisen lassen, die Kriterien der Interpretation konsequent anwenden – dann “leuchtet” die Sprache des Gedichtes immer mehr hinein in den Sinn, der sich beim Interpretieren entwickelt:
Alle tausend Jahre
Erstes Beispiel einer Schülerinneninterpretation
“Das Gedicht Alle tausend Jahre von Arno Holz beschreibt, wie – nach jeweils langer ‚Trockenzeit’ dazwischen – ein Moment des Glücks erlebt wird.
Gut spürbar ist der Zeilenstil, da Satz- und Strophenende miteinander übereinstimmen. Nach jeder Strophe, die auch ein Satz ist, gibt es eine kurze Pause, ohne jedoch dem Text ein rauhes oder gar hartes Gesicht zu geben.
Typisch für den Naturalismus hat Arno Holz in diesem Gedicht auf Reime und Metrik verzichtet.
Beim ersten Durchlesen wirkte es für mich dadurch fast wie eine Kurzgeschichte, bzw. stand nicht im Vordergrund, dass es ein Gedicht ist.
Nur Wörter wie „entseelte Himmel“ oder „Myriaden“ deuten auf einen pathetischen Sprachstil hin, wie er etwa für eine Ode typisch wäre.
Das Gedicht aus dem Zyklus (zweites Heft), wurde 1899, am Ende des Naturalismus, publiziert. Im ausgehenden 19. Jahrhundert drehte sich auch in der Lyrik alles um soziale Aspekte. Begriffe wie Grossstadtlyrik machen deutlich, dass die Reizüberflutung das Sozialkritische auch in viele Gedichte steigen liess.
In Deutschland kam es nicht zu den grossen Umwälzungen wie z.B. in Frankreich, aber gerade in der Lyrik wurde ohne Grenzen gedacht, oder zumindest über konventionelle hinaus.
Diverse Teile des Gedichtes zeigen den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit deutlich – 1. Strophe, Z.2: „[…] wachsen mir Flügel“. Flügel würden ein Flüchten in eine ‚bessere’ Welt und so dem lyrischen Ich die Selbständigkeit ermöglichen, die es sich wünscht.
Auch der „purpurne Drachenleib“ in der Finsternis vermittelt dieses Bild. Der Drache, ein symbolisches (Wappen-)Tier für Unabhängigkeit, Macht, Freiheit, Verwandlung; die Finsternis eine Möglichkeit für das lyrische Ich, die Welt der Schatten und schemenhaften Figuren so zu sehen und zu bewerten, wie es sich das wünscht.
Durch das Gedicht hindurch zieht sich eine Energie. Der Moment des Glücks, wenn man flüchten kann und durch die Dunkelheit fliegt, erfährt seinen Höhepunkt, wenn man den Himmel erreicht hat (Strophe 3).
„Am Bach, unter Weiden[…]“ leitet den Schluss ein, wo die Ruhe zurückkehrt, zur Harmonie wird, während die neu gewonnene Sorglosigkeit ausgekostet wird (Str. 4, Z. 3,4: […] singe und freue mich […]“.
Das lyrische Ich scheint zuerst beinahe passiv. Selten, nach einem viel zu langen Zeitabstand (1000 Jahre sind ja nicht ein menschliches Alter, sondern eine Hyperbel, um die eigentlich gemeinte Zeitstrecke zu verstärken) wird es zu einem „Drachen“ und kann endlich die verschlossene Freiheit ausleben.
In der letzten Strophe kann es in Ruhe sitzen, nach oben schauen und sich über all die schönen Dinge freuen, die es in der letzten Zeile der vorherigen Strophe erschaffen hat.
Erst hier, in der letzten Strophe, wird zum ersten Mal eine Vermutung zum Wesen des lyrischen Ich aufstellbar. In Z. 3 denkt man nämlich an eine Frau, kein fremd anmutendes Wesen, sondern eben ein Mensch: „[… F]lechte mein langes Goldhaar […]“ deutet darauf hin, dass das lyrische Ich, zumindest zeit- oder stellenweise, eine Frau repräsentiert. Nimmt man den nächsten Teil des Satzes hinzu – „[…] singe und freue mich, wie sie oben glitzern.“ – könnte man auch meinen, dass es ein Mädchen ist, mit aller kindlichen Freude am Glitzern eines Sterns.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich das Gedicht umso schöner finde, je länger ich mich darin vertiefe. Fehlen von Reim und Metrik stört keineswegs, ganz im Gegenteil: Der leichte Lesefluss in edler Gestalt lässt die entstehenden Bilder sich erzählen, was zu einem harmonischen Leseerlebnis beisteuert und gerade in der heutigen, hektischen und oft sozial eingegrenzten Zeit einen Ort schafft, wo man all dies wieder empfinden kann.”
Masha Streiff, 4f, 2015/16
2. Beispiel:
Hier noch auszugsweise ein weiterer überraschender Interpretationsansatz zu Alle tausend Jahre
“[…]Das Gedicht handelt von einer verstorbenen Liebe. Das lyrische Ich stellt sich vor, wie die Seele der Vermissten sich frei bewegen kann und die Gestalt eines purpurfarbenen Drachen annimmt. Dieser majestätische Drache kann sich durch Raum und Zeit bewegen und fliegt durch die Ewigkeit hindurch. Das ist der Kerngedanke. Er fliegt ohne Zeit, für uns scheinen tausend Jahre viel, aber in der Ewigkeit gibt es keine Zeit mehr. Sie ist nicht mehr die Hand über der Existenz, die unsere Welt dreht und unsere Haare wachsen lässt. In der Ewigkeit ist man Teil der Zeit. Das ewige Leben als Drache, der sich zurückverwandeln kann, wie es ihm passt, wie es ihm beliebt: Das ist es meines Erachtens, was Arno Holz sich für seine ruhende Liebe vorgestellt hat.
[…] In dieser Auffassung vom „ewigen Leben“ (hier wohl nicht in erster Linie in einem christlichen Sinne) ist die Zeit nicht mehr als solche existent, deswegen kann sie sich beliebig verwandeln, weil es immer „tausend Jahre“ sind, oder hundert Jahre, oder welche Zahl auch immer, und der Drache selber die Zeit in sich aufgehoben hat.
[…] Als ich das Gedicht ein erstes Mal gelesen habe, ist nichts durchgekommen. Nach wiederholtem Lesen hat es plötzlich „KJlick“ gemacht und ich habe meine Interpretation vage vor mir sehen können. Das Gedicht beeindruckt mich deshalb sehr, weil es so viele Arten der Interpretation und zugleich eine sehr abstrakte physikalische Situation zulässt. Das ewige Leben im Paradies ist hier ein eigentümlicher Zustand von Raum und Zeit. Das finde ich höchst interessant.”
Gabriel, 4f
… und jetzt eine Interpretation des Gedichts von Gertrud Kolmar, “Die Kröte”: Die Redaktion hat sich bei den folgenden beiden Texten erlaubt, an etwa je 10 Textstellen ein paar kleine Veränderungen (in diesem Blau) im Sinne einer möglichen Vertiefung vorzunehmen. Denn diese Texte sind ja in einer begrenzten Zeit entstanden; da konnte man nicht zigmal den Text überarbeiten. Einige der Ideen für diese Veränderungen stammen allerdings aus der vergleichenden Lektüre aller Aufsätze der Klasse: Die vielen Interpretationen nebeneinander haben das Gesamtverständnis erweitert. Also weiter geht’s:
“Das Gedicht die Kröte von Gertrud Kolmar ist in Gertrud Kolmar: Das Lyrische Werk. Gedichte 1927-1937 abgedruckt. Genau datiert ist es nicht, man kann das Datum nur einem Jahrzehnt zuordnen.
Auf den ersten Blick scheinen die Zeilen ein Naturgedicht zu sein, beim näheren Betrachten und Interpretieren wird einem aber die Brutalität des Dargestellten klar.
Die Kröte, hier das lyrische Ich (von Strophe 2 an), die anfangs noch friedlich unter einer Regentonne hockend den Sonnenuntergang betrachtet, wird gegen Ende von dunklem Morast weggespült und ruft schliesslich zu ihrer Tötung auf; sie gibt den Kampf auf.
Die Dichterin wurde 1943 in Auschwitz ermordet, die zeitliche Einordnung erfolgt also in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, der Zeit der Machtübernahme durch die Nazis, welche den Antisemitismus zum Programm machten.
Eine Deutungshypothese lässt sich am Schicksal der Autorin festmachen, nämlich das Gedicht als Aufruf zu verstehen, wie es kommen wird, wenn so weitergemacht wird (Tötungen waren gerade noch nicht an der Tagesordnung), dunkle Aussichten zum Schicksal der Juden in Deutschland, ein Sich-Stellen-Müssen gegenüber dem übermächtigen Feind.
Zum Thema macht das Gedicht jedoch zuerst eine Kröte und deren Lebensraum – oberflächlich zumindest. Von unten taucht mit der Zeit aber eine Bedeutungsschicht auf, die für das gesamte Gedicht gelten kann. Es ist brutal und abschreckend, ernst wie der TOD.
Zu Beginn ist das lyrische Ich noch nicht klar definiert, eine natürliche Umgebung wird beschrieben.
Die zweite der insgesamt fünf Strophen des Gedichts lässt ein klareres lyrisches Ich erkennen. Die Kröte steht im Zentrum, sie beschreibt nun in der Ich-Form ihre Umgebung und nimmt gefühlvoll Bezug auf die Strophe davor, in welcher die natürliche Umgebung einer Kröte beschrieben wird. Die Kröte beschreibt weiter die Geräusche, die sie hört. Sie horcht und schweigt (V. 22) […] und zerrt sich an fingrigem Bein (V. 23).
Dies bildet allmählich den Übergang von der Kröte im natürlichen Sinne (bzw. aus deren Blickwinkel; obwohl Kröten wohl kaum so denken würden, aber diese positive Vermenschlichung ist keine rein tropische, weil doppeldeutig und auch zu verstehen als negative belastende Metapher für die Dichterin, weil Kröten als aufsässig und hässlich gelten und sie sich in Deutschland auch so fühlte: Wie eine Kröte mit kurzen Beinen, hockend und zuschauend und verachtet von jedermann. Doch langsam wird das Bein, auf dem sie steht, wackelig; die intakte Naturwelt verschwindet, es bahnt sich etwas an.
Das lyrische Ich wird immer mehr zu einem menschlichen Wesen, bzw. nimmt die Stellung dafür ein.
Das Gedicht zeigt Kreuzreime sowie umarmende Reime, doch ein durchgehendes Schema kann nicht erkannt und das Gedicht somit keiner typischen Gedichtform zugewiesen werden.
Die spezifische Sprache birgt Tropen, sie ist schön und oft leicht kryptisch. Sie ist im Präsens verfasst.
Wie schon in der Einleitung erwähnt ist die Bildwelt des Gedichts düster. Die Stimmung wird immer melancholischer, vielleicht auch wütender.
Eine Vermutung ist, dass das Gedicht von den biografischen Erfahrungen der Autorin geprägt ist. Ihr friedliches Leben nahe der Natur (oder nahe der Suche nach der Sprache der Natur), das friedliche Leben der Kröte am Anfang geht über in eine dunkle Sicht auf das Leben, ein Leben voller drohendem Kampf, voller Angst.
Ein Gedanke zieht sich aus dem Schlamm (der Gedanke an den Nationalsozialismus und Antisemitismus). Kein guter Gedanke, denn er spült das lyrische Ich dahin, in Form von schwarzgrünem Efeu (V. 31). Die Kröte, der verzweifelte Mensch, versucht zu schwimmen, zu atmen, über Wasser zu bleiben, um nicht unterzugehen (geht eine Kröte unter?), in einer Welt, in der sie nicht erwünscht ist, in der sie nicht mehr sein soll. Langsam wir der Kampf, vielleicht der Kampf ums Überleben, aufgegeben, demütig möchte sie sich ihrem Schicksal ausliefern. Sie ist umgeben von Ruhe, ist von der Sorge befreit, kämpfen zu müssen, fliehen zu müssen, denn sie glaubt, dass alles keinen Sinn mehr hat.
Zum Schluss spricht sie fast trotzig davon, dass der Feind nur kommen solle. Dass er sie töten soll. Denn auch wenn sie in dessen Augen Ungeziefer ist (V. 37), weiss sie, was sie wert ist, was ein Mensch wert ist und was der Feind verliert, wenn er sie getötet hat: nämlich den Edelstein (V. 33). Der Edelstein steht für etwas Wertvolles, Teures und Schönes. Verloren ist verloren und der Feind ist selbst schuld.
In diesen letzten Versen bezieht sich der Inhalt einerseits auf das lyrische Ich als Mensch, aber auch als Kröte. Denn für die Kröte ist das Leben alles, was sie hat, auch wenn sie von grösseren, stärkeren Lebewesen (Menschen) nur als ekles Geziefer betrachtet wird. (V. 37).
Das Gedicht hinterlässt beim Leser viele offene Fragen. Es macht Eindruck, denn ist es anfangs noch lieblich, friedlich, wird es doch – zuerst ganz ohne dass der Leser es bemerkt – brutal und erschreckend, vielleicht als Gleichnis für ein Leben wie jenes von Gertrud Kolmar.
Anfangs sich in Sicherheit wiegend, in gewohnter Umgebung, geht es weiter bis zur Vertreibung, zur Gewalt, zum Tod.
Die anfängliche Vermutung, das Gedicht trage autobiografische Züge, besteht nach wie vor, die Kröte kann nach und nach als die Autorin identifiziert werden, wird immer mehr zu ihr – was ihren Tod bedeutet – und erzählt aber immer noch ihre Geschichte.”
Sophie, 4f
Und nun der Vergleich der beiden Gedichte in Form eines Aufsatzes…schwieriger oder naheliegender als eine Einzelinterpretation? Urteilt selbst…
“Das Gedicht Die Kröte stammt aus einer Sammlung von Gedichten, die zwischen 1927 und 1937, also erst nach dem Tod der Autorin, erschienen sind. Es handelt von einer Kröte, die ihren Lebensraum umschreibt.
Es ist in fünf Strophen gegliedert, die fast alle, mit Ausnahme er zweiten, aus acht Versen bestehen. Die erste Strophe weist zuerst einen Kreuzreim (abab) und dann einen umarmenden Reim (cddc) auf. In den übrigen Strophen treten nur noch Kreuzreime auf, gemäss dem abab cdcd-Schema. In den meisten Fällen beschränkt sich der Reim auf das Ende der Verse, nur in der zweiten Strophe im letzten Vers nicht, dort sind zwei in einem (was wohl auch daran liegt, dass diese Strophe nur aus 7 Versen besteht – ein typografisches Versehen? Vielleicht ging lediglich der Zeilenbruch vergessen…).
Der allererste Reim der ersten Strophe ist weiblich, dann folgt ein männlicher Reim, dann wieder ein weiblicher, und so zieht es sich durch das ganze Gedicht.
Die eigentümliche Sprache dieses Gedichts ist reich an Tropen, vorwiegend Metaphern, auch einige lautmalerische Begriffe sind vorhanden, so zum Beispiel „knistert“ in I.6 (sechster Vers der ersten Strophe) oder „Gewisper“ in III.2.
Das zweite Gedicht, Alle tausend Jahre von Arno Holz, ist komplett anders aufgebaut. Es stammt aus dem Zyklus Phantasus (2. Heft), das 1899 veröffentlicht wurde, es ist also eine Generation älter als das von Gertrud Kolmar.
Es handelt zwar auch von einem tierartigen Wesen, nämlich einem drachenartigen Geschöpf, dem sich aber, im Gegensatz zur Kröte, riesige, unendliche Räume in einem paradoxerweise viel kleineren sprachlichen Rahmen auftun, wie schon an der Struktur des Gedichts erkennbar ist.
Es ist in vier Strophen gegliedert. Die erste besteht aus nur zwei Versen, die zweite und dritte jeweils aus drei und die vierte aus vier Versen. Es lässt keinen Reim erkennen, weist also zumindest auf dieser Ebene eine viel geringere Strukturiertheit auf.
Auch die Ausrichtung des Gedichts bestätigt dies: Es verläuft optisch von der Mitte aus auf beide Seiten hin. Die Verse sind jeweils unterschiedlich lang und sperren sich gegen eine konsequent metrische Lesart. […]
So entsteht ein komplett anderes optisches Gesamtbild als in Die Kröte, dessen Verse von links nach rechts ausgerichtet sind abwechslungsweise kurz oder lang sind (wie ein versteckter binärer Code, eine geheime Nachricht ?). In beiden Fällen trägt das Erscheinungsbild bereits viel zum Verständnis des Inhalts bei: Hier geht es um eine Kröte, es wird ein bescheidener Naturraum beschrieben. Es herrscht eine Tageszeit vor; so deutet die Metonymie Abends hohe Röte wohl auf das Abendrot, den Sonnenuntergang hin.
Danach bricht die Dunkelheit herein, das Nachtleben erwacht. Die Kröte fühlt sich wohler im Schattenleben, sie fühlt sich hier besser als unter dem Licht der Sonne, denn: „Auf das Verenden der Sonne lauert mein schmerzlicher Mondenblick“.
Das lyrische Ich schildert in diesem Gedicht sein nächtliches Leben. Die Kröte steht für ein eher unbeliebtes Tier, sie beschreibt sich selbst (oder zitiert die abwertende Fremdbezeichnung, die ein feindseliges Du zu verwenden scheint) auch als „ekles Geziefer“.
Spätestens hier drängt sich ein biografischer Deutungsaspekt auf: Könnte dies nicht ein Hinweis auf die Autorin sein, die Jüdin war und in der Zeit, in der sie dieses Gedicht verfasste, wohl unter mehr als nur schweren antisemitischen Beleidigungen und Aktionen leiden musste. Die Kröte ist ein kriechendes Tier, sie sieht die Welt aus einer ähnlichen wie der Froschperspektive. Jetzt erklären sich auch die vielen, den Wahrnehmungsunterschied zu uns anderen Menschen unterstreichenden Wortstamm-Neologismen in der ersten Strophe (etwa Dämmer statt Dämmerung, steilen als Verb).
Dies alles vermittelt ein engeengtes Gefühl, sie hat nur kurze Beine, kommt nicht schnell von einem Ort zum anderen, ist eingeschränkt. So beschränkt sich das Gedicht einerseits auf einen Ausschnitt ihrer natürlichen Umgebung, wobei andererseits zu dieser naturgegebenen Eingeschränktheit noch eine Bedrohung von aussen kommt.
Im zweiten Gedicht zeigt das Drachentier ein ganz anderes Verhalten. Es handelt sich hier wohl um einen mächtigen, seiner symbolträchtigen und kulturellen Traditionen bewussten Drachen, der seine grossen Flügel ausbreitet und in eine Art Traumwelt fliegt. Der Titel deutet an, dass hier die Zeit im Nu vergeht. Der Drache fliegt durch die Ewigkeit, sprengt den Rahmen der Zeit. Diese freie, grenzenlose Welt wird durch die ziemlich freie Struktur des Gedichts nochmals verstärkt. Auch der Satzbau schmiegt sich unaufgeregt in die Anordnung der Strophen, als wäre all dies irgendwie selbstverständlich, weil wir uns eben im Drachenmodus befinden.
Der Drache blickt sozusagen aus der der Kröte entgegengesetzten Richtung, von oben auf die Welt nieder. Er ist Teil einer überzeitlichen Umgebung, verschmilzt in ihr.
Er begibt sich in eine Art Nirvana, in entseelte Himmel, wie es hier heisst. Er ist gross und stark, ihn bedroht nichts, nicht so wie die Kröte des ersten Gedichts.
In der letzten Strophe zeichnet sich ein deutlicheres Bild einer Art Landschaft auf Erden ab, doch erinnert es nicht sehr an die dunkle, archaische Welt des ersten Gedichts. Es ist eine weitläufigere Fantasiewelt mit Märchenmotiven, idyllisch, ruhig und wiederum zeitlos – ganz im Gegensatz zur Krötenwelt, wo wir im Zeit-Raumgefühl der Kröte um ihr Leben bangen.
Klar geworden ist, dass die jeweiligen Gedichte, obwohl sie beide von Tieren oder tierähnlichen Wesen handeln, eine komplett unterschiedliche Erlebniswelt entwerfen.
Die erste ist die einer wahrhaftigen, naturgetreuen Umgebung, sie wird in einem sehr strukturierten Modus und in einer klangvollen und bildreichen Sprache geschildert, beschränkt sich aber auf nur diese, auf das Momentane, das Hier und Jetzt der Kröte, inklusive unmittelbare Bedrohungslage.
Im zweiten Gedicht wird eine überzeitliche Welt geschildert, befreit von regelmässigen Abläufen im Kleinen oder engmaschigen Strukturen. Sie erscheint wie eine Traumwelt, in der man plötzlich anderswo auftauchen oder Sterne speien kann.
Bei beiden Gedichten fällt die bewusst gewählte optische Struktur auf: Das zweite will ein Gefühl der Leichtigkeit angesichts des Unermesslichen erwecken, das erste wohl eher die damalige Lage und die Gefühlslage der Autorin widerspiegeln, vielleicht hoffend auf weitere Verzweifelte oder zumindest ein Vermächtnis, das unzerstörbar ist: Den Edelstein.
Das einzige Objekt in diesem Gedicht, das auch im anderen seinen Platz fände.”
Hester, 4f